Schattenwelt

 

Heute fahren wir wieder eine Tour. Das Wetter ist zwar nicht so schön wie gestern, aber es geht. Der Himmel ist blau und die Sonne scheint.
Wir fahren Richtung Ittenbach und biegen in den Wald ein.
Es ist kalt und die Sicht ist schlecht. Mein Vorderrad zeigt immer weiter in Richtung Süden. Je weiter wir nach Süden vorstoßen, desto schlechter wird die Sicht.
Über einen breiten Waldweg geht es stetig bergauf.

An einer Hütte macht mein Fahrer eine Rast.
Er ist durchgefroren und er denkt an seine Dummheit. Er hat das gestrige Wetter vorausgesetzt. Wir bleiben nicht lang, nur in Bewegung bleiben, so wird es wenigstens ein wenig warm.

Das Ziel scheint erreicht zu sein. Er schaltet in den kleinsten Gang. Ob ich hier heraufkomme? Es ist naß, steil und der Untergrund sieht rutschig aus. Ein Ende ist nicht zu sehen. Irgendwo verschwindet der Weg in undurchdringlichem Nebel.
Er tritt an und der Aufstieg beginnt. Der Weg wird schmaler und schmaler. Plötzlich ist es aus, vor uns ist ein Wall aufgeschüttet. Eine zerschnittener Stacheldrahtverhau gebietet halt. Doch mein Fahrer enttäuscht mich nicht. Wir haben uns nicht bis zu diesem Punkt gequält, um hier umzudrehen.
Er steigt ab und hebt mich auf den Wall. Weiter geht es. Der Weg wird flacher und noch enger. Vorbei an rostigem Stahl und Steinbrocken fahren wir in einen Nebel verhangenen Talkessel. STOP! Er bremst rechtzeitig. Direkt vor uns ist ein flacher See. Ein Moor? Es sieht fast so aus. Die Sicht ist so schlecht, daß man nicht einmal Farben erkennt. Ich weiß, daß das Gras grün ist, sehen kann ich es nicht.
Fast alles verschwimmt in verschiedenen Grautönen. Nur die bemoosten Felswände schimmern grün zu mir herüber, eigenartig.
Es ist eine verkehrte Welt, ein seltsamer Ort. Trotzdem oder gerade deshalb übt er eine starke Faszination auf mich aus.
Mir kommt es vor, als ob an diesem Ort der Nebel entsteht. Er steigt in Schwaden auf, sammelt sich und macht sich auf seine Reise in die Welt.
Hier zu dieser Stunde und an diesem Ort fügt sich die Sonne dem Wasser und es scheint, als ob sie sich zurückgezogen hat. Mein Fahrer steht neben mir und schaut wie verzaubert in die wallende weiße Wand.
Ich begreife, wovor sich Generationen von Menschen fürchteten, als sie die „Moorgeister“ sahen. Alles geschieht absolut lautlos. Nicht einmal der Atem meines Fahrers ist zu sehen oder zu hören.
Wir müssen uns beide losreißen. Ich spüre, daß mein Fahrer friert. Wir müssen wieder fahren.
Widerwillig kehren wir auf dem Weg zurück und folgen einem steilen Pfad, der links den Hang hinauf führt.
Am Ende des Pfades öffnet sich ein kleines Plateau. Hier steht ein fester Schuppen. Hier gibt es keinen Verfall. Weiter geht unser Weg. Wir verlassen den „Nebelkessel“ endgültig.
Ein Schild „Betreten des Steinbruchs verboten. Lebensgefahr!“
Erstens betreten wir nicht, wir befahren.
Zweitens ist alles gefährlich, selbst am Essen kann man sterben.
Vor uns öffnet sich eine Ebene. Öffnet sie sich wirklich? Auch hier ist die Sicht sehr schlecht. Ich kann zwar wieder das Grün des Grases sehen, aber weiter als 50 – 60 Meter kann ich nicht sehen.
Es ist ein herum stochern. Wir tasten uns in die einzelnen Wege. Die erste Richtung wird durch einen Erdwall und einen intakten Stacheldrahtverhau versperrt. Hier geht es wieder zum Schuppen.
Der nächste Weg geht steil den Hang hinauf. Er muß auf einen Hang des „Nebelkessels“ führen. Also hinauf. Mehrfach muß ich mein Hinterrad zurechtweisen, es versucht leer zu drehen. Es ist verteufelt rutschig, doch wir erreichen den Gipfel.
Wie hätte es anders sein können – Sicht fast Null.
Also Abfahrt, langsam bitte, selbst ich will hier nicht schnell fahren.
Die letzte Richtung führt uns bergab. Ich weiß nicht wohin, wir sind beide auf Vermutungen angewiesen. Egal, wir wollen etwas sehen, den Berg erforschen – so gut es bei dieser Sicht geht.
Eine Gabelung, wir fahren nach links. Keiner weiß wohin dieser Weg führt.
Mein Fahrer bremst. Jetzt sehe ich es auch. Ein See, der zweite. Er liegt tief in einem Talkessel. Auch hier ist eine Stacheldraht Absperrung. Der See ist noch komplett vereist. Hier ist es kalt, sehr kalt.
Weiter geht es. Wir halten wieder. Ein Weg führt zum Steilufer des Sees. Der Stacheldraht ist teilweise beschädigt. Von hier oben ist der See nicht einmal ganz zu übersehen. Der Nebel gibt nur einen Teil des Sees frei. Von hier muß es bei schönen Wetter eine herrliche Aussicht geben.
Mein Fahrer signalisiert mir, daß wir das testen werden. Ich freue mich schon darauf.
Wir fahren weiter. Vor uns eine Straße. Wir haben den dritten See heute nicht gefunden. Bei dem Nebel ist es für mich ein Wunder, daß wir nicht verloren gingen. Mein Fahrer ärgert sich, daß er den dritten See nicht fand. Die Menschen sind halt komisch und nicht leicht zufrieden zu stellen.
Oh, Besuch. Zwei meiner Brüder halten an. Die Fahrer begrüßen sich und tauschen „Rad-Schläge“ aus. Das können wir noch viel besser und sind bald schon in einer prächtigen Unterhaltung. Wir reden über Touren, Schaltungen, Bremsen und Tips für die Tour. Ich muß gestehen, die anderen Räder haben keine eigenen Namen und ihre Fahrer verstehen sie nicht.
Ich erhalte einen Streckenvorschlag für den Rückweg, den ich direkt an meinen Fahrer weitergebe. Okay, das ist also auch geklärt. Er stimmt zu.
Es geht auf einer Asphaltstraße immer weiter bergab. Insgesamt sind es über 10 Km, die ohne Anstrengung gerollt werden.
Wir fahren noch auf eine Insel. Mein Fahrer nennt sie Grafenwerth. Er wollte sich in der Gaststätte bei einem Kaffee aufwärmen, aber geschlossen.
Jetzt beschließen wir endgültig den Rückweg anzutreten.
Vorbei am Rhein, es ist ein schöner Strom, fahren wir einen Slalom zwischen Bäumen und anderen Radfahrern. Es ist ein lustiges Spiel.

Und ich hätte wetten sollen – wieder eine Reinigung. Nach dieser Kälte ist das warme Wasser eine Wohltat.

Ich werde noch oft an diesen Tag denken. Das gigantische Schauspiel, das der Nebel aufführte.
Das Gefühl geführt zu werden, ohne selbst genug zu sehen.
Das Herantasten an die Grenzen und nicht zu vergessen: Die „unheimliche“ Schönheit dieses Steinbruchs, die wir bei klarer Sicht noch einmal erleben wollen.
Hoffentlich verliert er durch das schonungslose Licht der Sonne nicht seinen Zauber.
Aber die Erinnerung an dieses Erlebnis ist unvergänglich und wird ewig bleiben. Ewig? Was ist Ewigkeit? Selbst ich, der ich alles weiß, kann diesen Begriff nicht erklären, noch nicht.


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