Mein Fahrer

 

Mein Fahrer steigt langsam auf und rutscht im Sattel hin und her, um eine gute Sitzposition zu finden.
Er ist also kein Anfänger.
Mein Fahrer dreht die Kurbel in die Antrittposition und prüft kurz beide Bremsen.
Er ist also vorsichtig.
Mein Fahrer tritt kräftig an.
Er ist also trainiert.
Wir fahren nach links eine kleine Steigung hoch. Ich beginne es zu genießen. Doch was macht er? Mein Fahrer bremst mich ab und hält hinter einem Auto. Er öffnet die Klappe und ich liege auf der Ladefläche, bevor ich begreife, wie mir geschieht.
Wir fahren los – im Auto.
Er hält noch an zwei anderen Fahrradgeschäften.
Wenn er zurück zum Auto kommt, trägt er immer Tüten. Ich möchte wissen, was er mitbringt.
In einem Hof ist unsere Fahrt beendet. Er öffnet die Heckklappe und schiebt mich in eine Wohnung. Es ist mein neues Heim. Er hat in seiner Höhle – wieso nennt er seine Wohnung Höhle – eine Ecke neben der Heizung für mich reserviert.
Ich werde hochgehoben und an einen Montageständer geklemmt. Vorsichtig, um mich nicht zu verletzten, dreht er die Spannschraube zu.
Jetzt hänge ich dort hilflos vor ihm. Ich bin ihm ausgeliefert. In dieser Situation kann er alles mit mir machen, ich bin wehrlos.
Er stellt Musik an, macht sich einen Tee und setzt sich auf das Sofa. Der wird mich doch nicht hier hängen lassen und sich einen schönen Tag machen?
Nein, er steht auf und holt die Tüten. Jetzt studiert er kleine Zettel. Ich weiß plötzlich, was er macht. Von meinem Wissen erhalte ich die Information, daß es klüger ist, mit Ruhe an eine Sache heranzugehen. Dinge, die überstürzt angegangen werden, enden meist nicht gut.
Er öffnet die Werkzeugkiste und beginnt mit der Arbeit. Zuerst bringt er einen Tacho an. Ich finde einen Tacho gut. Ich will schließlich wissen, wie schnell wir sind. Ich habe das Ding, was er neben den Tacho schraubt, noch nie gesehen. Er drückt einen kleinen Hebel herunter und – es klingelt. Das kleine Ding ist eine Klingel. Putzig, aber es paßt und erfüllt seinen Zweck.
Was macht er jetzt? Lange schwarze Steckschutzbleche, der will auch bei schlechtem Wetter fahren. Ich weiß zwar nicht was ein Mountain-Bike mit Schutzblechen soll, aber mir fehlt ja noch die Erfahrung. Jetzt schraubt er mir auch noch einen Frontreflektor an.
Er macht sich an meiner Sattelstütze zu schaffen, er schraubt eine kleine Halterung an. Mal abwarten, für was die gut sein soll. Jetzt schraubt er mir auch noch so ein Ding an den Lenker. Ich rufe ihm zu: „He, stop, der Lenker ist voll, hier ist kein Platz mehr. Wofür sollen die Halter gut sein?“ Er versteht mich nicht und schraubt weiter.
Bedächtig, nicht zu hastig, wird ein Kabel zu meinem Tretlager verlegt. Ich kenne nur ein Gerät, das ein Kabel zum Tretlager braucht, eine Trittfrequenzanzeige. Der Tacho hat eine Trittfrequenzanzeige. Mein Fahrer ist doch keiner, der nur wissen will, wie schnell er fährt.
Die Zeit will nicht vergehen, wir scheinen nie fertig zu werden. Er holt immer noch etwas aus den Tüten. Was hat er jetzt?
Nein, nicht mit mir. Man hat ihn nicht informiert. Ich bin ein Mountain-Bike, noch dazu ein rassiges. Selbst die Umbauten, die bis jetzt gemacht wurden, können das nicht ändern, aber das geht zu weit. Ich komme nicht los, ich bin zu stark eingeklemmt. Hilfe, Ur-Bike, der will mir einen Gepäckträger anmontieren.
Der Träger ist fest. Ich muß zugeben, mein Fahrer weiß, was er macht. Um mein Schaltwerk nicht zu behindern, hat er außen U-Scheiben unter die Halteschrauben getan. Aber ein Gepäckträger. Wäre ich nicht so stabil gebaut, hätte ich an diesem Schock sterben können.
Vielleicht ist es ja ein gutes Zeichen, ein Gepäckträger trägt Gepäck und Gepäck kann lange Touren bedeuten. Falls das stimmt, ist ihm der Gepäckträger verziehen.
Was macht er denn jetzt noch. Das gibt es nicht. Ein Ständer, ich will fahren und nicht stehen.
Zu spät, schon montiert.
Er geht zum Sofa und setzt sich. Er trinkt den kalten Tee und schaut mich prüfend an. Dieser Blick ist mir unangenehm. Es ist ein Gefühl als ob er mir bis in die Rohre schaut. Jetzt steht er auf und schaut hier, prüft dort und tritt zurück. Mein Fahrer lächelt mich an, dieses Lächeln sagt mir: Es ist getan. Er löst die Spannklaue des Montageständers und ich habe wieder meine Reifen unter mir. Huch, er läßt mich fallen. Ach ja, der Ständer. So ein Ständer ist doch praktisch. Man kann ohne fremde Hilfe stehen. Wieder eine neue Erfahrung.
„Halt! Laß meine Hörner, was soll das?“ Er versteht mich wieder nicht. Das ist nicht verwunderlich, ich verstehe ihn auch noch nicht. Von Ur-Bike weiß ich, später werden wir uns verständigen können. Er setzte sich, stieg ab und löste meine Sattelstütze – wieso geht bloß jeder an meine Sattelstütze – und zog sie noch ein kleines Stück heraus. Wieder setzt er sich in Position. Diesmal scheint er zufrieden zu sein. Er greift mir an meine Hörner und dreht sie etwas nach oben. Gott sei Dank, er läßt wenigstens die Hörner dran.
Er dreht sich um, geht zum Tisch und hantiert dort an etwas herum. Jetzt kommt er zurück und schiebt zwei schwarze Kästchen in die kleinen Halterungen. Es sind Lampen. He, super, wir fahren also nicht nur bei schlechtem Wetter, sondern auch bei Dunkelheit.
Ich bin zum ersten Mal alleine in meiner neuen Wohnung, halt, mein Fahrer bezeichnet sie ja als Höhle. Ich werde es auch so halten – auch wenn ich noch nicht weiß warum er sie so nennt.
Ich höre Wasser rauschen. Mein Fahrer kommt zurück, er trocknet sich die Hände ab. Seine Augen leuchten. Er öffnet die Tür und rollt mich nach draußen.


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