Die erste Fahrt

 

Wir bewegen uns langsam auf der Straße. Mein Fahrer hat Recht, wir sollten uns erst aneinander gewöhnen. Ich will auch noch nicht zeigen, was alles in mir steckt.
Ich bin so glücklich. An der frischen Luft – hier ist sie schon besser, wir sind auf einem Dorf – zu rollen und die Umgebung zu sehen.
Wir fahren an kleinen Fahrern vorbei. Sie rasen mit meinen kleinen Brüdern durch Pfützen. Zuerst bin ich entsetzt über so einen Vandalismus. Warum erklärt ihnen niemand, wie schädlich ihr Verhalten für Kette, Schaltung und Lager ist. Plötzlich empfange ich die Gedanken meiner Brüder, sie denken an Spaß und Freude. Ich bin perplex. Wissen auch sie nichts von den Gefahren?
Die Neugier auf diesen Spaß und die Freude sind es, die mich zu einem waghalsigen Entschluß treiben. Ich suche mir eine Pfütze, eine kleine, flache. Mein Fahrer läßt mich laufen. Hoffentlich merkt er nicht, wie ich langsam die Richtung ändere. Er darf nicht erfahren, daß wir Fahrräder eine Seele haben und Leben. Ich habe Angst. Ob mein Fahrer böse wird? Vielleicht achtet er aber auch nicht darauf. Meine arme Kette, mein armes Schaltwerk. Zum Glück sind die Lager gekapselt. Tief in meinem Innersten hoffe ich, daß mein Fahrer mich nach meinem Abenteuer pflegen wird.
Wir haben die Pfütze fast erreicht, noch ein kleines Stück, jetzt tauche ich in das Wasser ein. Es spritzt nur wenig.
Mist, mein Fahrer schaut mich durchdringend und prüfend an, dieser Blick, der fast körperlich ist, zeigt mir, er hat etwas gemerkt. Er hebt den Kopf schaut nach vorne und zeigt keine weitere Reaktion. Vielleicht denkt er, er sei Schuld an unserer kleinen Pfützendurchfahrt.
Dieses Gefühl bei der Durchfahrt läßt den Spaß erahnen, wenn es richtig spritzt. Aber ich habe Angst. Mein Fahrer paßt zu gut auf.
Oh, er steuert direkt auf eine riesige Pfütze zu. Sieht er sie nicht? Er kann doch leicht ausweichen. Was macht er jetzt? Er stemmt sich in die Pedale, unsere Geschwindigkeit erhöht sich rasch. Da kommt die Pfütze, das Wasser spritzt in hohen Fontänen zur Seite. Mein Fahrer hat wieder dieses Lächeln. Ich weiß jetzt noch etwas, Lächeln kann auch Wissen ausdrücken. Lächeln ist faszinierend. Schade das Fahrräder nicht lächeln können.
Er fährt ohne eine Reaktion zu zeigen weiter und drosselt das Tempo etwas. Ich bin ihm dankbar dafür. Dies gibt mir die Zeit, die Gefühle, die sich aufgestaut haben, loszulassen.
Ich spüre eine unbändige Lebensfreude in mir aufsteigen. Ich habe in diesem Moment die wichtigste Erfahrung in meinem Leben gemacht: Leben ist nicht Vernunft. Im Gegenteil, Leben ist unvernünftig. Es ist von Geburt an auf den Tod ausgerichtet, gewürzt mit Arbeit, Enttäuschung und Ärger. Das, was dem Leben einen Sinn gibt, ist das vermeintlich Unnütze, der Kitzel der Gefahr und das Vertrauen in einen anderen.
In diesem Augenblick spüre ich eine tiefe Zuneigung zu meinem Fahrer in mir aufsteigen. Ich würde am liebsten mit ihm sprechen, das uralte Geheimnis lüften, leider können wir uns nicht verständigen. Stimmt das eigentlich? Er hat mich verstanden, ohne das wir geredet haben.
Er weiß es, dieser Blick, die Fahrt durch die Pfütze – er ist für mich durchgefahren.
Er muß es wissen. Hoffentlich kann ich ihm vertrauen. Aber Vertrauen ist einer der Eckpfeiler des Lebens.
Ich kann mich nicht mehr richtig auf die Fahrt konzentrieren. Ich bin froh, als wir wieder an seiner Höhle ankommen. Er steigt ab, stellt mich einfach hin und geht in die Wohnung. Sollte ich mich so in ihm getäuscht haben, mich hier einfach stehen zu lassen.
Die Türe öffnet sich wieder und er kommt heraus. In seiner Hand befindet sich ein Eimer mit Wasser. Ich glaube ich werde rot. Ich könnte vor Scham im Boden versinken. Ich muß lernen zu vertrauen.
Die Reinigung war ein herrliches Erlebnis. Das warme Wasser spült den Dreck aus den Ritzen und der weiche weiße Schaum liebkost meinen Körper. Fast ist es Schade, daß er den Schaum abspült. Jetzt folgt der unangenehme Teil der Reinigung, er schüttelt mich, hebt mich hoch und läßt mich fallen. Aber das restliche Wasser verschwindet selbst aus den kleinen Ritzen. Da wäre ich nicht Drauf gekommen. Man lernt nie aus, selbst wenn man das gesamte Wissen der Welt besitzt.
Jetzt holt er eine Dose. Ah, Kettenöl. Er sprüht meine Kette und die Schaltfeder ein. Das tut gut.
Ich fühle mich wie ein Pferd, das von seinem Reiter nach einem langen Ritt ausgiebig gestriegelt und gebürstet wird.
Er wischt das überschüssige Öl ab und schiebt mich in seine Höhle.
Dies war mein erster Tag und meine erste Ausfahrt in Freiheit. Sollte es so bleiben, bin ich sicher einen guten Fahrer bekommen zu haben.


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