Lange einsame Straßen

 

Ich spüre die Nervosität und die Anspannung von meinem Fahrer. Ich spüre unsere geistige Verbindung mit jedem gemeinsamen Kilometer mehr. Ich fühle, daß etwas besonderes passieren wird. Er packt Getränke und Müsli-Riegel in seinen Rucksack. Das hat er vorher noch nie getan.
Er sieht mich an und fühlt meine prall gefüllten Reifen. Ich werde in den Hof gerollt.
Wir radeln gemütlich auf der üblichen Strecke. Hier fahren wir doch täglich lang. Warum war er so aufgeregt.
Was macht er jetzt, hat er die Einmündung verpennt? Hier hättest er abbiegen müssen.
Er fährt immer weiter, wir fahren einen neuen Weg.
Wir erreichen eine Ebene und machen ein gutes Tempo. Ich habe Zeit, die Gedanken zu sortieren. Mein Fahrer könnte schneller, warum bremst er unseren Schnitt?
Ich denke nicht länger über diese Frage nach. Wir rollen und das ist schön.
Später machen wir eine Pause. Wir halten an einer alten Burg. Er blickt auf seine Uhr und dann auf ein Schild, das an der Mauer hing. Die Burg ist schön, trotzdem scheint mein Fahrer nicht glücklich zu sein.
Seine Gedanken kann ich nicht erkennen. Seine Gefühle hingegen treten öfters in mein Bewußtsein. Ich bin dabei, auf dem Weg der Entwicklung einen kleinen Schritt weiter zu kommen.
Er schaut auf einer Karte nach. Wir brechen wieder auf. Die Straßen werden schmaler und einsamer. Wir sind teilweise alleine. Alleine in einer weiten Landschaft, die aus Hügeln, Wäldern und Feldern besteht. Es ist ein ständiges auf und ab. Ohne Streß und Hektik fahren wir Kilometer um Kilometer und mit jedem weiteren Kilometer stumpft das bewußte Denken mehr ab. Ich lasse meine Gedanken treiben. Dort, wo sie sich kurz aufhalten, verfestigt sich ein Eindruck oder eine Idee, alles andere wird nicht bewußt wahrgenommen und verschwimmt mit den anderen Eindrücken und Ideen zu einer Masse.
Von Ur-Bike weiß ich, wie wichtig diese Masse von Eindrücken und Ideen ist. Aus ihr entsteht der unbewußte, gefühlsmäßige Eindruck einer Situation. Ich meine, er ist wichtiger als das bewußt Wahrgenommene und Durchdachte. Er entspringt dem Unterbewußtsein, dem Instinkt. Er kommt dem wahren Kern näher.

Ich bin richtig überrascht, als wir uns auf einem Feldweg befinden. Oh nein, das ist steil. Der Feldweg hört auf und wird ein schmaler Fußweg. Will mein Fahrer da wirklich mit mir hoch. Tatsächlich, wir sind fast im kleinsten Gang und er tritt an.
Es ist lustig, immer am Rande des Überschlags. In den Kurven verliert mein Vorderrad den Bodenkontakt. Aber so kommen wir viel leichter um die engen Kurven herum.
Schade, wir haben die Spitze erreicht. Nun rollen wir gemächlich über eine Staumauer.
So einen großen See habe ich noch nie gesehen.
An einer Bucht halten wir und mein Fahrer steigt ab. Er setzt sich auf eine Bank und ißt etwas.
Ich genieße die kurze Pause und betrachte den See. Wasservögel ziehen ihre Kreise, landen oder starten. Das Leben ist in hektischer Betriebsamkeit und trotzdem strahlt es eine friedliche Ruhe aus.
Nach einer Weile rüstet mein Fahrer zum Aufbruch. Wir fahren ein Stück zurück und folgen einem Waldweg. Zuerst war er ja harmlos, weiter unten hatte ich aber meinen Spaß. Der Weg verließ den Wald und ich durfte ihn ungebremst hinunter sausen. Leider sind diese Passagen immer nur kurz, schon taucht die nächste Straße vor mir auf und ich spüre die Gewalt meiner Bremsen.
Wir folgen wieder dem langen Asphaltband. Es geht jetzt fast ständig bergauf. Wir passieren kleine Dörfer und erreichen eine Anhöhe.
Es geht steil hinunter. Es ist eine herrliche Schußfahrt. Die Straße gehört uns fast alleine. Ich würde mir den Teil, der uns nicht gehört, liebend gerne auch noch nehmen. Doch eine harte Hand weiß das jedesmal zu verhindern.
Wir erreichen eine kleine Ortschaft und biegen in ein Tal ein. Steil ragt eine Felswand empor. Auf der anderen Seite ein Bach, über uns zieht ein Raubvögel. Es ist herrlich, die wilde, aber auch romantische Stimmung dieses Ortes aufnehmen zu dürfen.
Es ist so einfach, mit offenen Augen durch das Leben zu gehen. Man muß sich nur die Zeit nehmen, das Gesehene wahr zu nehmen.
Dinge, die einem selbstverständlich erscheinen, erhalten etwas einzigartiges. Auf der anderen Seite sind Dinge, die unmöglich schienen, plötzlich selbstverständlich.
Das ist der Schlüssel. Er bedeutet eine Öffnung für die Umwelt mit ihren Reizen, er beinhaltet aber auch eine Öffnung des Geistes, eine Bereitschaft Neues zu lernen, und Unglaubliches und Fremdes nicht ungeprüft abzulehnen.

Dies wird mir klar, als ich neben diesem Bach entlang fahre. Ich spüre die Erregung meines Fahrers.
Ein neues Gefühl. Nein, zwei neue Gefühle.
Erstens erkenne ich Einzelheiten der Gefühle und Empfindungen, die mein Fahrer hat. Er denkt mit Freuden an eine Zeit, die vor meiner liegen muß. Hier versagt mein Wissen, mir fehlt noch die Erfahrung, fremde Gefühle so zu deuten, als ob es meine eigenen wären. Mir fehlen Stücke des Zusammenhangs.
Zweitens erkenne ich, ich habe einen Schritt getan. Ich kann Gefühle meines Fahrers aufnehmen. Dies ist der erste Schritt in einen neuen Abschnitt meines Lebens.
Wir machen eine kleine Rast. Die Gefühle meines Fahrers drücken eine Art innere Zuneigung aus, die ich so noch nicht gefühlt habe. Er ist mindestens so aufgeregt wie ich.
Ich bin froh, als wir wieder aufbrechen. Es lenkt doch etwas ab. Ich kann den Gesamteindruck so besser verarbeiten. Die Gefahr an einem unwesentlichen Punkt zu verharren, ist jetzt nicht mehr so groß.
Die Erkenntnis, sich selbst zu öffnen, war der Auslöser für diese „Wahrnehmungserweiterung“.
Ich werde wieder etwas ruhiger.
Wir müssen schon eine schöne Strecke zurückgelegt haben, als ich wieder in der Lage war, meine Umgebung richtig in mich aufzunehmen.
Wir fahren durch ein breites Tal, vor uns ein anderes Mountain-Bike. Unser Tempo ist höher als gewöhnlich. Ein Rennen? Das brauche ich jetzt, um mich von meinen Gedanken zu lösen.
Wir schieben uns weiter an meinen Bruder heran und in einem günstigen Moment huschen wir vorbei. Ich höre das andere Bike. Es ist erschrocken. Es hat nicht mit so einem Manöver gerechnet.
Wir fahren kein Rennen im eigentlichen Sinn. Wir messen nicht unsere Kräfte. Wir haben beide einfach Spaß, uns gegenseitig anzuspornen. Unsere Fahrer spielen beide mit.
Da ein großer Fluß, weiter geht die fröhliche Jagd über die menschenleeren Wege. Eine Brücke. Vorbei! Es ist ein ständiger Wechsel. Bei jeder Möglichkeit verändern wir unsere Position, lassen dem anderen die Möglichkeit des Überholens. Schade, vorbei. Unsere Wege trennen sich. Ich rufe meinem Bruder noch eine gute Fahrt zu und dann ist er auch schon verschwunden.
Ich kann jetzt den großen Fluß betrachten. Er schiebt seine gewaltige Masse ruhig und majestätisch an uns vorbei. Wir warten an seinem Ufer.
Natürlich, eine Fähre. Wir wollen auf die andere Seite. Auf der anderen Seite schmiegt sich eine kleine Stadt an den Hang. Sie versucht sich zwischen den Fluß und die Berge hinter ihr zu schieben. Es ist ein schönes Bild. Wir kommen näher und Einzelheiten fallen ins Auge.
Es ist schon etwas unheimlich ohne festen Boden unter den Reifen. Mein Fahrer hält mich zum Glück gut fest.
Ohne Aufenthalt geht es weiter. Erst über eine Straße, später wieder neben dem Fluß.
Au, was ist das? Ich habe einen Schlag gespürt. Meine Kette. Eine Niete hat sich gelöst. Ich werde versuchen, sie an ihrem Platz zu halten. Vielleicht gelingt es, wenn ich mich konzentriere. Ich versuche meinen Fahrer zu erreichen. Wir fahren zwar ein hohes Tempo, aber er muß gleichmäßig fahren. Ich kriege ihn sonst nicht bis nach Hause.
Das wäre mir nicht nur unsagbar peinlich, ich fände es auch meinem Fahrer gegenüber nicht Fair. Er kümmert sich so nett um mich. Ich muß durchhalten.
Ah, ich erkenne die Gegend. Es ist jetzt nicht mehr weit. Trotz der Unterstützung meines Fahrers läßt meine Konzentration nach. Ich bin wahrscheinlich kaputter als er. Es kostet mich viel Kraft, die Niete an ihrem Platz zu halten.

Endlich zu Hause. Ich habe es seltsamer Weise schon als mein eigenes Zuhause angenommen. Ja ich möchte es auch als Höhle bezeichnen. Heute „erfahre“ ich am eigenen Leib, wie es ist, sich verwundet in eine schützende und Wärme spendende Höhle zu flüchten. Ich fühle mich jetzt wie ein Tier, das sich zurückziehen will.

Heute war ein langer ereignisreicher Tag. Ich bin stolz auf das Erreichte und werde die Erkenntnisse und Erlebnisse nie vergessen. Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als uns ein flüchtiger Blick zeigen kann. Man muß nur bereit sein, diese Dinge wahrzunehmen.


Aus? Inhalt Die Genesung