Eine seltsame Nacht

 

Heute ist eine seltsame Nacht. Die Menschen lassen Feuerwerkskörper explodieren. Ich höre es schon den ganzen Tag. Zuerst dachte ich, jemand schießt oder es werden Bomben geworfen, doch dann erinnerte ich mich – es ist Silvester.
Es ist verwunderlich, daß die Menschen, die zum Mond fliegen und eine Stadt im Weltraum planen, einen heidnischen Brauch zur Geistervertreibung zelebrieren.
Mein Fahrer scheint vernünftiger zu sein. Es ist kalt und spiegelglatt draußen im Hof. Wir bleiben gemütlich in unserer warmen Höhle und lassen alles an uns vorüber ziehen.
Mein Fahrer packt einen Rucksack. Will er morgen wandern gehen? Ich bin neugierig und versuche seine Gedanken zu lesen. Ich erschauere. So wie ich seine Gedanken verstehe, will er noch heute raus – mit mir.
Ich schreie ihm zu: „Nicht, ich fürchte mich vor Glatteis! Ich werde mich – uns verletzen!“
Er packt weiter und als ob er mich gehört hat, denkt er an eisfreie Straßen.
Ich beruhige mich langsam und überlege, ob wir die Straße überhaupt erreichen.
Er schiebt mich in den Hof und bringt mich tatsächlich bis zur Straße.
Wir fahren auf nassem aber griffigem Asphalt. Es ist die gleiche Strecke, die wir vor einer Woche fuhren. Halt, nicht ganz, diesmal fahren wir auf der Straße und nicht auf den Radwegen. Zum Glück! Einer meiner Brüder müht sich auf dem Radweg ziemlich ab.
Wir fahren immer höher hinauf. Es wird nebelig. Ich habe den Eindruck, wir versinken tief in den Wolken.
Es ist ein schauriges Gefühl. Man könnte glauben, der Nebel will einen verschlingen.
Wir haben die Margarethenhöhe erreicht. Wir verlassen die Hauptstraße und biegen wieder in die kleine Nebenstraße ein, die zur Löwenburg führt.
Mein Fahrer läßt mich ausrollen, steigt ab und prüft die Wege. Man kann der schön schlittern.
Ich denke mir schadenfroh, siehst du, hier ist Schluß. Keine Chance weiter zu kommen.
Denkste, mein Fahrer kettet mich an ein Schild und geht zu Fuß weiter.
Ich stehe jetzt hier in der Dunkelheit und weiß nicht mehr weiter.
Ein Kauz schreit. Es klingt schön, aber unheimlich.
Der Nebel läßt nach und es klart auf.
Ich höre Glocken und viele Explosionen. Es sieht aus, als ob viele neue Sterne am Himmel stehen.
Sie erscheinen nur, um genauso schnell zu vergehen, wie sie entstanden sind.
Es wird ruhiger und ich beginne mich zu langweilen.
Es ist schon sehr spät, als mein Fahrer endlich kommt.
Wir fahren in der Nebenstraße mit äußerster Vorsichtig. Die Straße beginnt wieder zu vereisen, auf der Hauptstraße ist aber noch alles frei und ich darf wieder laufen.
Es ist wie eine Belohnung, diese steile Straße zu fahren. Dicht vor der Kurve werde ich gebremst um kurz darauf wieder eine steile Abfahrt hinunter zu rasen. Heute fahren wir auch noch das dritte Steilstück voll. Es ist herrlich, dafür hätte ich auch noch länger gestanden und gewartet.
Ich würde mich ja bei meinem Fahrer bedanken, aber er mag diese Schußfahrten selbst zu sehr.
Es ist ja auch ein unheimlich befreiendes Gefühl, mit hoher Geschwindigkeit geräuschlos über die Straße zu fliegen. Kein Auto weit und breit. Die Straße gehört uns allein.
Mein Fahrer denkt an die andere Seite der Margarethenhöhe. Er meint, aber es müsse hell sein für dieses Strecke.
Ich freue mich schon auf diese Tour.
He, verdammt, jetzt begreife ich. Der Mistkerl hat mich durchschaut. Er unterhält sich hier mit mir und ich habe es nicht gemerkt.
Ich habe das Geheimnis der Fahrräder verraten.
Er lacht, es ist kein verächtliches Lachen, es ist eher ein freundliches Aufmuntern. Er denkt an einen anderen Menschen, der weiß, daß Fahrräder eine Seele haben.
Ich bin geschockt. Unser Geheimnis ist auch anderen bekannt. Die Menschen wissen von unserer Intelligenz.
Der wiegelt ab und denkt es sind nur sehr wenige, die es vermuten und noch weniger, die es wirklich wissen.
Sie werden alle schweigen. Das Geheimnis wird bewahrt.

Ich frage ihn nach dem anderen Menschen.
Er antwortet nicht direkt. Seine Gedanken werden unklar und wieder drängen sich diese seltsame Erinnerung zwischen uns.
Ich erfahre nur noch, daß ich diesen Menschen, der seinem Fahrrad einen Namen gab, irgendwann kennenlernen würde.

Namen, ein Fahrrad mit einem persönlichen Namen.
Mein Name, sie erinnern sich: Appear Cube, ist nicht nur mein Name, Hunderte meiner Brüder heißen ebenso.
Ich hätte auch gerne einen eigenen Namen.
Er verspricht es mir. Wenn wir uns besser kennen, soll ich einen eigenen persönlichen Namen erhalten.
Auf dem restlichen Weg geht mir dieser Gedanke nicht mehr aus dem Sinn: Ein Name, für mich.

Wieder in der Höhle setzt sich mein Fahrer noch zu mir. Er denkt an sein erstes und an sein letztes Motorrad. Das erste hieß ganz einfach Susi. Das letzte hieß Blue Wing. Ich frage ihn, was diese Namen für eine Bedeutung haben.
Es antwortet: Susi war eine Suzuki und es lag nah, sie einfach Susi zu nennen. Sie war wohl zufrieden, denn sie hat mich nie im Stich gelassen. Blue Wing war eine Gold Wing. Ich suchte einen Rufnamen für den CB-Funk und dieser Rufname ging auf das Motorrad über. Auch dieses Motorrad hat mich nie enttäuscht.

Ich empfange eine Welle von Heiterkeit. Mein Fahrer steht auf und geht in die Küche. Er kehrt mit einem Piccolo und einem Glas zurück und setzt sich wieder auf das Sofa.
Nachdem er den Piccolo geöffnet und das Glas gefüllt hat, sagt er laut zu mir: „Wozu warten, ich habe doch einen passenden Namen gefunden. Ich werde Dich Wiesel nennen. Du bist klein, schnell, wendig, irgendwie süß und etwas frech. Ich mußte plötzlich an ein Wiesel denken.“ Er sieht mich an und hebt das Glas. Ich bin sprachlos.
Ich habe einen eigenen Namen. Er hat mich zwar nach einem Tier benannt, aber es ist ein eigener Name, weil er mir für meine Eigenschaften verliehen wurde. Er wurde mir nicht bei der Erbauung gegeben, weil ein Fahrrad eine Bezeichnung braucht.
Sogar der Rahmen war etwas feierlich. Mit Sekt und Kerzenlicht bei klassischer Musik. Ich könnte ihn küssen.


Der erste echte Kampf Inhalt Berge rauf und runter