Die Natur

 

Wir sind auf einer Tour. Plötzlich verlassen wir die Straße. Wir biegen in einen Waldweg ein. So ein Waldweg ist schon anstrengend. Meine Felgen, der Rahmen und überhaupt, alle Teile werden stark beansprucht. Ich bin zuerst etwas böse über diese rauhe Behandlung, genieße dann aber selbst die Ruhe und die Schönheit, die uns ganz unvermittelt umhüllt.
Das ist Natur.
Wir halten an einem Kessel. Unter uns schimmert ein kleiner See, vor uns erhebt sich eine Wand aus Vulkangestein. Ein herrlicher Anblick. Die unbändige Kraft, die hier gewirkt hat, ist fast körperlich spürbar. Ich erschauere vor Ehrfurcht und lasse die Eindrücke auf mich wirken. Könnte ich mich nur mit meinem Fahrer verständigen. Ich wüßte so gerne, wo dieser Platz liegt und wie er heißt.
Nach einiger Zeit dreht mein Fahrer mich um. Wir fahren zur Straße zurück. Nein, wir überqueren sie nur und fahren auf der anderen Seite wieder in den Wald.
In einem anderen Kessel halten wir kaum. Er ist größer und weiter, aber ihm fehlt die Ausstrahlung.
Eine kurze Zeit später geht es steil bergan. Ein seltsames Gefühl, die Nase steigt steil nach oben, der Boden unsichtbar unter meinen griffigen Reifen. Es geht durch ein Meer aus Blättern immer weiter hinauf.
Oben steht eine kleine Ruine, kaum der Rede wert, doch mein Fahrer steigt ab und stellt mich an eine Mauer. Er steigt eine Treppe empor und blickt sich oben um. Ich will weiter, mehr von dieser herrlichen Landschaft erleben. Da kommt er endlich zurück.
Wir setzen den Weg fort. Eine steile Abfahrt kommt auf mich zu. Ich muß meine Bremsen und die Reifen ganz schön fordern. Aber für mich ist es mehr Spaß als Anstrengung. Hier ist mein Element. Ich spüre, dies ist meine Erfüllung, hierfür wurdest du erschaffen, dies ist mein Leben. Hätte ich einen Mund, ich hätte vor Freude schreien können. So mußte ich einen stillen Schrei ausstoßen. Was ist das? Erhalte ich da eine Antwort, es ist eine Art Echo, das ich empfange. Ich bin doch das einzige Fahrrad in der Gegend!
Unten angelangt folgen wir wieder dem breiten Weg. Mein Fahrer erhöht das Tempo. Ich sehe den Dreck fliegen. Hier geht es um den reinen Spaß, den das Leben einem bieten kann. Die Herausforderung, der man sich stellt. Keine Anstrengung ist zu groß, es ist alles nur die Freude am Leben. Ich weiß nicht, wie es meinem Fahrer geht, ich könnte in diesem Zustand Berge versetzen.
Wir erreichen auf der anderen Seite eine Straße. Diesmal folgen wir ihr. Es geht steil hinunter und mein Fahrer läßt mich einfach laufen. Der Dreck, der sich in meinem Profil angesammelt hat, wird einfach weggeschleudert.
Auf den Wegen, die wir heute gefahren sind, liegt meine Erfüllung. Wie kann ich dies meinem Fahrer zu verstehen geben? Muß ich es ihm zu verstehen geben? Ich denke nein, ich denke er weiß es. Er wußte es vor mir. Er kannte dieses Gefühl von Freiheit und Ungebundenheit, aber trotzdem nicht los können – gefesselt von der Schönheit, der Kraft, der Geborgenheit und der Ruhe.
Wer dieses Gefühl einmal erlebt hat, wird es sein ganzes Leben nicht vergessen. Er wird versuchen dieses Gefühl zu halten und zu ehren.
Die Eindrücke, die auf einen einwirken, ohne das man sie direkt wahrnimmt. Erst später dringen sie wie durch Nebel in das Bewußtsein.
Ich versuche immer noch die Farben zu begreifen. Es ist nicht möglich, einzelne Farben zu sehen, man erfaßt nur das gesamte Farbspektrum. Es sind zu viele Grüntöne, zu viele Gelb- und Brauntöne, um sie zu trennen oder sie zu beschreiben.

An seiner Höhle angekommen, werde ich wieder gereinigt. Ich mag dieses wohlige Gefühl.

Dieser Tag hat bleibende Erinnerungen gebracht, deren Eindrücke nicht mit Wissen und Worten erfaßt werden können. Diese Eindrücke sind nicht vermittelbar, sie müssen selbst erlebt werden.


Die erste Fahrt Inhalt Unheimliche Dunkelheit