Die erste Begegnung

 

Ich will mich kurz vorstellen. Immerhin bin ich die Hauptperson in diesem Buch. Mein Name ist Cube, Appear Cube. Erschaffen wurde ich im Jahre 1995.
Ohne Einbildung kann ich von mir behaupten, ein tolles Teil zu sein. Mein schlanker Rahmen (Tange Cro Mo, double butted(Die Wandstärke der Rohre nimmt in der Mitte ab.), Höhe 53 cm) gibt mir in Verbindung mit der wuchtigen Ahead-Gabel (Spinner Cro Mo, tripple butted(Richtig – die Rohre haben dreifach unterschiedliche Wandstärke.)) und den griffigen Reifen von Maxxis auf Mavic-Felgen mit den zierlichen Speichen ein rassiges Aussehen.
Von Kleinigkeiten wie Alu-Teilen und Onza-Hörnchen will ich genauso wenig reden wie von Selbstverständlichkeiten wie ´95 Shimano XT Schaltung, GripShift 800 und Magura Raceline Bremsen. Ich würde allerdings gerne meine Kurbelgarnitur verschweigen. Die haben mir doch glatt eine ´95 Shimano LX Garnitur an mein XT Tretlager geschraubt.
Empörend! Nicht wahr? Bei Gelegenheit werde ich mich beschweren, so geht das nicht.
Wie Du als Kenner von rasigen rassigen Schönheiten weißt, liegt mein Gewicht bei ca. 10,4 Kg, selbstverständlich fahrfertig und ohne jeden Schnickschnack.
Meine Maße sind normale Mountain-Bike Maße. Dies dürft ihr nicht als Entschuldigung verstehen. Ihr müßt es so sehen, daß ich in jedem Gelände und in allen Situationen eine gute Figur machen will.
Jetzt wißt ihr, um wen es geht. Kurz, ich bin ein reinrassiges Spaßgerät, das vor Lebensfreude und vor dem Drang nach Freiheit fast birst.

Dieser Drang ist es, der mir zu schaffen macht. Ich werde fast verrückt. Ich bin eingesperrt in einem dunklen, fensterlosen Raum.
Ich höre meine Brüder und Schwestern. Sie stehen zu Dutzenden nebenan in einem riesigen Raum an Fenstern. Sie können die Welt wenigstens sehen. Sie unterhalten sich über Fahrradfahrer. Ich habe noch nie einen gesehen. Es muß verschiedene Typen geben. Ich habe von Tourenfahrern, Rennfahrern und Mountain-Bikern gehört. Die Unterschiede zwischen diesen Typenbezeichnungen kenne ich nicht. Ich vermute nur, daß ich einen Mountain-Biker bekommen werde.
Wenn er doch nur käme. Ich sehne mich nach Tageslicht. Damals, als ich von den hier beschäftigten Bediensteten in meine jetzige Form gebracht wurde, war ich kurz draußen. Ich wurde ein paar Meter an richtiger Luft unter freiem klaren Himmel bewegt. Dies ist die schönste Erinnerung, die ich an mein kurzes Leben habe.
Heute ist der 14. November. Ich bin hoffnungslos.
Ich höre meine Brüder und Schwestern. Sie verabschieden sich. Biker, dies muß ein anderes Wort für Fahrradfahrer sein, haben sie gekauft. Ich weiß zwar nicht was gekauft bedeutet, aber es scheint meinen Brüdern und Schwestern zu gefallen.
Ein Bediensteter kommt herein. Ich will ihn schon ansprechen, da merke ich, er steuert in meine Ecke, er kommt zu mir. Was wird er wollen? Will er mich ausfahren, wieder ein paar Meter. Er holt mich in den riesigen Raum. Ich wußte nicht, daß ich eine so große Familie habe.
Er bringt mich zu einem Ding, das wie ein Bediensteter aussieht. Seltsam, bis jetzt hat noch kein Bediensteter einem anderen etwas gebracht. Jetzt sagt der Bedienstete etwas zu dem Ding: „Hier habe ich noch ein 53er.“ Das Ding lächelt und nickt. Der Bedienstete löst meine Sattelstütze und zieht sie etwas heraus. Er sieht das Ding an und das Ding kommt auf mich zu. Es greift den Lenker und – NEIN, es will sich auf meinen Sattel setzen. Das Ding ist doch viel zu schwer. Es wiegt mit seiner Verpackung doch gut 100 Kg. Zehn mal schwerer als ich.
Es setzt sich. Das Ding scheint zu spüren, daß ich Angst habe. Es setzt sich langsam und vorsichtig. Jetzt spüre ich das volle Gewicht. Ich entspanne mich und stelle fest, daß es geht. Das Gewicht ist auszuhalten.
Ich bin so aufgeregt. Das Ding rollt etwas mit mir umher, zieht etwas an meinen Bremshebeln. Die gerade begonnene Bewegung wird abrupt gestoppt. Was ist jetzt?
Das Ding steigt ab. Es sagt zu dem Bediensteten so etwas wie: „Gekauft, morgen früh hole ich es ab.“
Wovon redet es? Habe ich es müde gemacht, muß es sich bis morgen ausruhen?
Jetzt kommt der Bedienstete und schiebt mich wieder in den dunklen Raum.
War es das? Ist das Leben schon vorbei?
Meine Brüder und Schwestern lachen. Unverschämtheit, die lachen über mich.
Halt, sagte das Ding nicht so etwas wie „gekauft“? Wenn es ruhiger ist, muß ich versuchen, mit meiner Familie zu reden. Einer muß doch wissen, was dieses „gekauft“ bedeutet.


Vorwort Inhalt Die Aufklärungsstunde